Die Sowjetunion und Sanktionen: Was die russischen Experten von der Geschichte lernten

Veröffentlicht am: | Online: 21 июня 2024
Quelle: HSE

Manchmal liefert die Geschichte Antworten auf die brennenden Fragen. So dachten wahrscheinlich die Expertinnen und Experten der Spitzenuniversität "Higher school of economics", auch unter der Abkürzung HSE bekannt, die einen Bericht zur Sanktionspolitik gegen die Sowjetunion verfassten. Auffallend positiv betitelten sie ihren Bericht "Wirtschaftswachstum von UdSSR unter Sanktionen", was wiederum ein deutliches Indiz auf die Stimmung in den Expertenkreisen ist. HSE gilt als Hochburg der liberalen und westlichorientierten Kräften in Russland, die anscheinend nicht mit einer baldigen Entschärfung der geopolitischen Lage rechnen und versuchen, von der sowjetischen Erfahrung Lehren zu ziehen und somit im russischen Diskurs wahrgenommen zu werden.

Zuerst stellen die Autorinnen und Autoren fest, dass die erfolgreichsten russischen Unternehmen ein Teil der globalen Lieferketten waren und vom globalen Markt profitierten. Der Binnenmarkt kann diese globalen Verbindungen nicht ersetzen (S. 5 - hier und weiter sind die Seitenangaben aus dem russischen Original). In der Sowjetzeit spielten die antisowjetischen Sanktionen für die zivilen Industriesparten kaum eine Rolle, denn sie waren auf den Binnenmarkt orientiert, qualitativ minderwertig und von äußeren Einflüssen unabhängig. Das betrifft jedoch nicht die moderne russische Wirtschaft, die dann durchaus von Importen abhängt, insbesondere bei hochwertigen technologischen Produkten wie Maschinen, Computer und Saatgut (ebd.). Die nicht-wirtschaftlichen Sanktionen, z.B. Ausschluss von wissenschaftlichen, kulturellen und sportlichen Ereignissen führten zum gewissen sozialen Druck, was separatistische Bestrebungen in der UdSSR stärkte. Zu den aktuellen Ausschlussmaßnamen machen die Autorinnen und Autoren aber keine Angaben, weil das Thema ihrer Meinung nach nicht ausreichend erforscht ist (S. 6).

Die Expertinnen und Experten erklären zuerst, die Grundlagen der sowjetischen Handelspolitik und machen einen breiten historischen Exkurs. Die Sanktionen hätten wahrscheinlich nicht zum Kollaps der sowjetischen Wirtschaft geführt, aber den Wachstum und technischen Fortschritt erheblich verlangsamt (S. 8). In der Marktwirtschaft können die Waren und Devisen frei ver- und gekauft werden, was auf die sowjetische Wirtschaft nicht zutraf, denn dort waren die Export-Import-Geschäfte zentralisiert, die Währung war nicht frei handelbar und alle Transaktionen liefen über das Ministerium für Außenhandel und die speziellen Banken. Die Preissetzung war staatlich gesteuert und nicht immer von den wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst (S. 14-17).

Die Industrialisierung des russischen Reiches, die in den daraufkommenden Jahrzehnten von der Sowjetregierung fortgesetzt wurde, beruhte auf den ausländischen Investitionen. Allerdings setzt der Schutz der Eigentumsrechte solche Investitionen voraus (S. 18). Die indirekte Kritik des aktuellen Kurses der russischen Regierung, die die ausländischen Investoren abschreckt, ist hier durchaus erkennbar und weist deutlich Parallele zu der heutigen Lage auf, wo die großen Projekte nur unter der besonderen staatlichen Garantie durchgeführt werden können. Für die Regierung habe der Außenhandel nur eine periphere Bedeutung gehabt, es ging dabei primär nicht um die Kostenvorteile. Man wollte vielmehr die Abhängigkeit von internationalen Märkten reduzieren und die außenwirtschaftlichen Erschütterungen vermeiden. Der Hauptaugenmerk der Sowjetregierung war die Beschaffung von Devisen, um wichtigen Ressourcen und Technologien aus dem Ausland zu kaufen (S. 19).

Wegen der Zentralisierung seien die Entscheidungen langsam gewesen und hätten die internationale Situation nicht berücksichtigt (S. 21). Der wichtigste Schwachpunkt des sowjetischen Imports war die Abhängigkeit von modernsten und komplexen Maschinen aus den Industrieländern. Die Autorinnen und Autoren beschreiben dabei den "Teufelskreis", in dem der Einfuhr von den modernsten Maschinen die Nachfrage nach weiteren Maschinen und Technologien steigerte (S. 23). Der Sowjetunion ist bis zum Zerfall nicht gelungen, diesen "Teufelskreis" zu brechen.

Trotz der politischen Prioritäten sei der Anteil der sozialistischen Ländern im Außenhandel gesunken. Gleichzeitig wuchsen die Handelsvolumen mit den kapitalistischen Ländern (S. 23-24). Die Sowjetunion setzte auf die Kredite aus den westlichen Ländern, um die Importe zu finanzieren (S. 25). Diese Zentralisierung des Außenhandels erlaubte Einblicke in die wirtschaftliche Lage, weil große Handelsoperationen Rückschlüsse auf die Defizite der sowjetischen Wirtschaft erlaubten. Somit konnte man gezielt dort ansetzen, wo der Schaden am größten war. Die Abhängigkeit von ausländischen Krediten habe die UdSSR empfindlich für den politischen Druck gemacht, bei den Verhandlungen wurden die politischen Forderungen geäußert (S. 25-27).

Insgesamt zählen die Autorinnen und Autoren des Berichts drei Gruppen von Sanktionen. Die erste Gruppe betraf die militärischen Technologien und die Technologien, die im militärischen Bereich verwendet werden könnten. In der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts fanden viele ursprünglich zu militärischen Zwecken entwickelten Technologien, wie Internet, später Verwendung in allen Wirtschaftszweigen und trugen somit zum Wohlstand der kapitalistischen Ländern und deren Verbündeten bei. Wegen der Sanktionen sei die Sowjetunion von diesen Technologien abgeschnitten gewesen (S. 31).

Die zweite Gruppe der Sanktionen betraf den sowjetischen Energiesektor, was die Gewinnung und Lieferung vom Erdöl und -Gas betraf. Die Sanktionen wurden oft von den USA veranlasst, wobei die europäischen Akteure hinter dieser Politik oft die Interessen der amerikanischen Erdöl und -Gasfirmen vermuteten (S. 32). Die Sanktionen wurden aber nicht immer von den US-Verbündeten mitgetragen. Als Beispiel wurde die Erweiterung der Pipeline von Sibirien nach Polen erwähnt, die zur Steigerung der Energielieferungen in die sozialistischen Länder führen sollte. Die USA verhängten Sanktionen gegen das Projet, allerdings führten diese Schritte zu Protesten der US-Verbündeten. Die Banken aus Japan und Frankreich zusammen mit westdeutschen, italienischen und französischen Unternehmen unterstützten das sowjetische Vorhaben trotz des Drucks aus den USA (S. 33).

Die dritte Gruppe betraf die Lebensmittel, wie das amerikanische Getreideembargo von 1980. In diesem Fall konnte die Sowjetunion schnell alternative Quellen für Getreide finden und die amerikanischen Lebensmittelproduzenten erlitten Verluste, weswegen das Embargo nur zwei Jahre hielt (ebd.).

Die Expertinnen und Experten erwähnen, dass die Sanktionen im Kontext des Kalten Krieges zusätzlich zur Disziplinierung der Partnerländer oder der indirekten Schwächung des Gegners durch die Sanktionierung von Verbündeten dienten (S. 34). Die prominentesten Beispiele sind Kuba und Polen, die mit schweren Sanktionen belegt wurden. Deswegen war die UdSSR gezwungen, ihre Verbündete finanziell und wirtschaftlich zu unterstützen, was zur zusätzlichen Belastung führte.

Nichtsdestotrotz fand die Sowjetunion mehrere Wege, die Sanktionen zu umgehen. Die Sanktionen verzögerten zwar die Importe, aber es war möglich, neue Quellen für gewünschte Ressourcen oder Waren zu finden. Als die USA den Bau der Gaspipeline mit Sanktionen belegten, bekam die UdSSR die gewünschten Röhre über Schweden. Das Land wurde dann durch zusätzliche Gaslieferungen "belohnt". Die Kredite der japanischen und französischen Banken wurden mit den Gaslieferungen abbezahlt (S. 36). Somit halfen Widersprüche zwischen verschiedenen Ländern der Sowjetunion, die Sanktionen zu umgehen.

Die antisowjetischen Sanktionen sind allerdings kaum quantifizierbar. Die Marktwirtschaft in Russland erlaubt genau zu berechnen, ob ein "Parallelimport", ein in Russland derzeit gängiger Begriff, oder eine Eigenproduktion ökonomisch sinnvoll sind. Vielleicht das ist der zentrale Unterschied zur sowjetischen Erfahrung, weil die Wirtschaftlichkeit für die sowjetische Regierung kaum eine Rolle spielte.

Auffallend ist, dass die Expertinnen und Experten lediglich auf die Schadensbegrenzung hinweisen können, ohne dabei Ursache für die Schwierigkeiten beim Namen zu nennen. Der Bericht ist symptomatisch für die russische Expertenzunft, insbesondere für diejenigen, die als westlich orientiert und liberal galten. Die Isolation von gewohnten Kontakten zum Westen führt dazu, dass man den innerrussischen Diskurs bedient, wo derzeit "Importersatz" und "Parallelimport" ein hochaktuelles Thema sind. Dadurch können sich die Expertengruppen Gehör verschaffen, die nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine an den Rand gedrängt und oft der Illoyalität verdächtigt wurden. Daher anfangs erwähnte positive Formulierung des Titels, die zu allgemeinen Stimmung der Glorifizierung der eigenen Vergangenheit passt, wobei unterschwellig Thesen verbreitet werden, die auf eindeutig Missstände hinweisen, wie zum Beispiel Probleme mit dem Schutz der Eigentumsrechte. Andererseits ist dieser Bericht auch für die westliche Leserschaft gedacht und soll zeigen, dass der gewählte Kurs zwar spürbare Schaden zufügt, aber bei weitem nicht ausreichend ist, um einen Politikwechsel in Russland zu erzwingen.