Männliche Sozialisation

Veröffentlicht am: 26 Februar 2023 | Online: 26 Februar 2023
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Die Ansätze aus der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts waren auf die Dichotomien ausgerichtet und bewegten sich anhand der Kategorien wie Geschlechter, Individuum-Gesellschaft, Innen-Außen (Faulstich-Wieland, 2000, S. 9). Solche Ansätze wurden öfter wegen ihrer schwachen Erkenntnisorientierung kritisiert. Ende der 1990er gewann die biologische Sichtweise an Bedeutung, die besonders prominent im deutschsprachigen von Harris vertreten war. Diese führte die unterschiedlichen Sozialisationen nicht nur auf die gesellschaftlichen Rahmen zurück, sondern auch erkannte, dass die Jungen und Mädchen auf der Suche nach ihresgleichen sind, weil diese Suche biologisch und evolutionär vorprogrammiert ist (Faulstich-Wieland, 2000, S. 10). Hierbei handelt es beim Geschlecht nur um eine Selbstidentifikationsform, die von anderen Rahmenbedingungen und Rollenmodellen bestimmt werden (Faulstich-Wieland, 2000, S. 10-11). Schon beim Geburt lernen die Menschen ihre Umgebung kennen und passen ihr Verhalten entsprechend an (Faulstich-Wieland, 2000, S. 11). Es gehört zur Sozialisation aber auch die gezielten Lernprozesse und Wissensvermittlung, die von außen kommen (Faulstich-Wieland, 2000, S. 11). Bei der Analyse des Begriffs „doing gender“ wurde gezeigt, wie die Erziehungs- und Verhaltensmuster nach der Geburt bei der Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht anhand der anatomischen Merkmale vermittelt werden und damit seit Generationen erhalten bleiben (vgl. Faulstich-Wieland, 2000, S. 11). Goffman bezeichnet das als Identifikationsetikette, wo die Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft geschlechtsklassenspezifische Verhaltensweisen bestimmen (Faulstich-Wieland, 2000, S. 11).
 

Wichtig sind auch die Bedingungen zu berücksichtigen, in denen die Sozialisation stattfindet. Zu den Rahmenbedingen gehören Region, soziale Schicht und Ethnie (Faulstich-Wieland, 2000, S. 12). So sind die Erwartungen an den Vertretern der wohlhabenden Familien anders als bei den wenig gutverdienenden Familien. Dadurch öffnen sich andere Gestaltungsmöglichkeiten bei den Jugendlichen. Zum Beispiel die wohlhabenden Familien werden eine Sportart für ihren Jungen wählen, die mehr Kapital benötigt und für breite Schichten nicht zugänglich ist, wie Hockey oder Autosport. Conwell meint, dass die Männlichkeit „höher“ bewertet wird und auf die Sozialisation der Jungen auswirkt (Faulstich-Wieland, 2000, S. 13). Dies erklärt auch oft die Wahl der Freizeitbeschäftigungen bei den jungen Männern, die durch Gruppenaktivitäten sich in ihrer eigenen Rolle bestätigt sehen. Nach Bourdieu einmal bestimmte männliche Dominanz muss nicht rechtfertigt werden, sondern bleibt durch die Sprache, Strukturen und Kultur erhalten (Faulstich-Wieland, 2000, S. 13). Dies erklärt warum die Sozialisationsprozesse bei den jungen Männern so beständig sind und die Transformationen so langsam vorankommen. Deshalb ist es wichtig, die Beteiligten selbst die Bedeutung der Sozialisation vor Augen zu führen. Dafür ist es notwendig die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Selbstreflexion der Männlichkeit zu betrachten, um die möglichen Handlungsempfehlungen vorzubereiten.

 

Selbstreflexion eigener Männlichkeit                    

Die erste Welle der Emanzipation umfasste vor allem die Frauen, aber schon in den früheren Entwicklungsphasen der Bewegung wurde klar, dass die faktische Emanzipation nicht in das „Entgegenkommen“ hinauslaufen soll, sondern mit der Transformation des Eigenbildes Mannes verbunden ist (vgl. Böhnisch 2013, S. 9). Dabei war die Diskrepanz zwischen der Aufbruchstimmung in der Forschung mit den Herausforderungen und Problemen, mit denen die Männer konfrontiert waren, sehr deutlich und wiedergab nicht die Realität (vgl. Böhnisch 2013, S. 10). Böhnisch spricht in diesem Kontext von einer Fassade von „männlicher Dominanz“, hinter der die Geschichten von „Verlierern“, wie Schulabbrecher, Langzeitarbeitslose und an psychischen Erkrankungen Leidende versteckt sind (Böhnisch 2013, S. 10).  Dabei ist es wichtig, die wirtschaftlichen Entwicklungen nicht aus dem Auge zu verlieren, weil sie maßgeblich zur Emanzipation beitrugen, indem die geschlechterspezifische Arbeitsteilung irrelevant wurde (Böhnisch 2013, S. 11). Prekäre Arbeitsbedingungen und befristete Verträge erschüttern das Männerbild von einer festen und lebenslangen Arbeit und führen zur Suche nach anderen männlichen Erscheinungsbildern (Böhnisch 2013, S. 16). Böhnisch sieht dabei eine Herausforderung, weil im Alltag die Geschlechterunterschiede an Bedeutung verlieren, wohingegen sie bei der Sozialisation der jungen Männer große Rolle spielen (Böhnisch 2013, S. 12). Bourdieu definiert die Selbstwahrnehmung des Mannes wie folgt: „Mann zu sein heißt, von vornherein in die Position eingesetzt zu sein, die Befugnisse und Privilegien impliziert, aber auch Pflichten, und alle Verpflichtungen, die die Männlichkeit als Adel mit sich bringt“ (zit. nach Faulstich-Wieland, 2000, S. 14). Zu oft wurde in der Wissenschaft über die „Männerdominanz“ gesprochen, ohne die Komplexität der Erscheinungsformen der Männlichkeit und der Männerrollen zu berücksichtigen (Böhnisch 2013, S. 14). Die „Männlichkeit“ ist keineswegs nur ein statischer Zustand, sie verändert sich je nach der historischen Situation und Kontext. Im privaten Leben, in der Familie wird eine kooperative und emphatische Männlichkeit erwartet, wohingegen im Arbeitsalltag die aggressive und leistungsorientierte vorausgesetzt wird (Böhnisch 2013, S. 14). Dies zeigt, wie transformativ die Männerbilder seien können. Hier kann man schon von einer Form der Selbstreflexion sprechen, da die zu aggressive und unkooperative Verhaltensweise in bestimmten Kontexten von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird und somit darauf verzichtet wird.  

Durch die Diskreditierung der männlichen Dominanzstrukturen finden sich die Männer sich wieder in den Ecken, wo sie auf die Gruppenbildung und Nischenbildung zurückgreifen können (Böhnisch 2013, S. 17). In diesen Nischen werden dann die eher traditionellen Männerbilder erlebt, was von der Gesellschaft auch akzeptiert wird, weil sie nicht destruktiv ist. Böhnisch meint dazu: „Es ist also nicht unbedingt der ‚neue Mann‘, sondern eher der pragmatische Mann, den eben die gewandelte Arbeitsgesellschaft dazu zwingt, sich kooperativ entgegenkommend und nicht mehr dominant zu verhalten“ (Böhnisch 2013, S. 18). So bleiben dann die Sozialisationsformen erhalten, indem die jungen Männer eigene Gemeinschaften und Gruppen bilden. Dies bestätigt die Tatsache, dass die Männlichkeit durchaus unter dem Einfluss der Gesellschaft steht, aber auch die Tatsache, dass die Jugendlichen diesen Erwartungen ausweichen können. Diese Nischenbildung kann sowohl positive als auch negative Folgen haben. In der schwierigen Situation kommen oft die Jugendlichen auf die destruktiven Sozialisierungsmöglichkeiten, wie Drogen und Rap (Haeger, 2013, S. 96-97). Besonders sind dabei die männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund betroffen, weil sie zusätzlich mit im neuen gesellschaftlichen Kontext gelandet sind (vgl. Haeger, 2013).

Hinzu kommt die Veränderung der Sozialisierungsformen. Insbesondere in den stabilen und wohlhabenden westlichen Gesellschaften kommen sehr starke Impulse von der Privatwirtschaft, die die weiblichen und männlichen Jugendlichen beeinflussen. Die Sozialisierung wird öfter als „Biografisierung“ dargestellt, wo die eigenen Handlungen und Bewältigung der Herausforderungen im Mittelpunkt stehen, die sowohl von Frauen als auch von Männern bewältigt werden können (Böhnisch 2013, S. 22). Dabei werden die Geschlechterunterschiede nivelliert, was im Interesse der Privatwirtschaft ist, weil somit die Zahl der potenziellen Kunden steigen kann.

Neben den geschlechterspezifischen Problemen soll auch beachtet werden, dass die Pubertät die Phase ist, in der alle Jugendlichen unter enormen Druck stehen, der sowohl von Peers als auch von der Gesellschaft kommt (Germscheid/Reuter/Wanielik, 2008, S. 2). Die männlichen Jugendlichen sind mit drei Faktoren bei der Sozialisierung konfrontiert. Erstens, das ist innere Auseinandersetzung mit dem körperlichen und seelischen Zustand; zweitens, die Verarbeitung der gesellschaftlichen Erwartungen; drittens, die Außendarstellung der eigenen Männlichkeit, besonders unter dem Einfluss der zwei vorher genannten Faktoren (Möller, 2012). Zwar stehen dabei die Jungen vor mehreren Alternativen, diese jedoch keineswegs einfach sind. Die Jugendlichen können die Vorbilder ablehnen, sich nach eigenen Kriterien orientieren, die vorgegeben Kriterien in bestimmten Rahmen umsetzen (was vorher mit der Nischenbildung dargestellt war) oder die Erwartungen situativ umsetzen (was vorher als Kooperationsbereitschaft dargestellt wurde) (Möller, 2012). Die Demonstrationsformen der Männlichkeit sind auch sehr unterschiedlich. Für Bourdieu ist die Präsentation des Körpers und ihren Eigenschaften auch ein wichtiger Teil der Männlichkeit, indem die männlichen Körper explizit durchtrainiert und muskulös aussehen sollen (Faulstich-Wieland, 2000, S. 13).

Literaturverzeichnis:

Böhnisch, Lothar (2013): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Mit Gastbeiträgen von Wedel, Alexander und Winter, Reinhard. 2., überarbeitete Auflage, Beltz Juventa, Weinheim und Basel

Faulstich-Wieland, Hannelore (2000): Sozialisation von Mädchen und Jungen - Zum Stand der Theorie, in: „Diskurs“ 10 (2000) 2, S. 8-14

Haeger, Kaja Swanhilt (2013): Soziale Repräsentationen von Männlichkeiten Der Einfluss geschlechtsspezifischer, ethnisch-kultureller und sozialer Zuschreibungen bei jungen Männern mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Möller, Kurt (2012): Männlichkeit, Mannhaftigkeit und Mannbarkeit: Wie aus Jungen Männer werden, in: Aus der Politik und Zeitgeschichte, 40/2012, https://www.bpb.de/apuz/144861/wie-aus-jungen-maenner-werden?p=all (28.05.2021)

Lernen und Lernstörungen. Jahrgang 3/Heft 4/ Oktober 2014 /ISSN 2235-0977 www.lernen-zeitschrieft.com. Herausgeber Liane Kaufmann (gf.) Cordula Löffler, Marianne Nolte, Silvia Piner, Gerd Schulte- Körne , Michael von Aster.

Kiper 2015. Beziehungen wertschätzend gestalten 20(2).

Sturzenhecker, Benedikt(2010): Arbeitsprinzipien aus der Jungenarbeit, in Sturzenhecker, Benedikt/Winter, Reinhard (Hrsg.) (2010): Praxis der Jungenarbeit- Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern, Weinheim/München: Juventa.

Sturzenhecker, Benedikt (2010)/ Winter, Reinhard(Hrgs.) (2010): Praxis der Jungenarbeit- Modelle, Methoden und Erfahrungen aus n Arbeitsfeldern, Weinheim/München: Juventa.

Ibrahim Mirzayev

Ibrahim Mirzayev

Experte bei BeiPG/Strategic Eurasia de

Born in Moscow in 1821, Dostoevsky was introduced to literature at an early age through fairy tales and legends, and through books by Russian and foreign authors. de